- Kino: Der frühe Tonfilm
- Kino: Der frühe TonfilmIm Oktober 1927 hatte in den USA der von Warner Brothers produzierte Film »Der Jazzsänger« Premiere, in dem der Hauptdarsteller Al Jolson sprach und sang; dabei wurde der Ton von einem mit dem Projektor synchronisierten Grammophon abgespielt. Erstmals vernahm das Kinopublikum Worte, wenn auch nur in einigen Szenen des Films. Der Erfolg von »Der Jazzsänger« revolutionierte die amerikanische Filmindustrie. Die Studios integrierten zunächst Tonsequenzen in jene Stummfilme, die sich noch in der Produktion befanden. An die Stelle dieser »Part-talkies« traten bald mit Lichtton versehene »All-talking pictures«, die innerhalb weniger Monate den Stummfilm endgültig verdrängten.Die neue Technik zeitigte grundlegende ästhetische Veränderungen. Die Kamera, die wegen des störenden Laufgeräusches mit einer aufwendigen Schallisolierung versehen werden musste, büßte ihre Mobilität ein, und auch die Bewegungen der Schauspieler wurden nun von den strategisch platzierten Mikrofonen vorgegeben. Für kurze Zeit kehrte das Kino wieder zu einer theatralen Statik zurück. Entscheidender als diese technisch bedingten ästhetischen Beschränkungen, die schnell überwunden wurden, war die Tatsache, dass sich mit der Verbindung von Bild und Ton die naturalistischen Tendenzen der Kinematographie verstärkten.Mit dem Siegeszug des Tonfilms und unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Depression entstanden in den USA Ende der Zwanzigerjahre neue Genres. So hatte Hollywood bereits während der Stummfilmzeit Filme über die Unterwelt und das organisierte Bandenwesen produziert, doch erst die neue Dimension des Tons etablierte den Gangsterfilm als eigenständiges Genre, gab den zuvor stilisierten und melodramatischen Gangsterepen eine neue realistische Qualität. Die idiomatische Ausdrucksweise und der rüde Tonfall waren für den Gangster neben seiner ständigen Bereitschaft zur physischen Aktion die wichtigsten Mittel im täglichen Kampf um seinen Platz in der Unterwelthierarchie. Nicht nur der Slang wurde zu einem Merkmal des Genres, sondern auch die urbane Geräuschkulisse. Held des klassischen Gangsterfilms, dessen historischer Bezugsrahmen die Zeit der Prohibition von 1920 bis 1933 bildet, war der »Bootlegger«: Die Figur des illegal arbeitenden Produzenten und Schmugglers von Alkohol verkörperte in den Filmen der frühen Dreißigerjahre, als viele Amerikaner die immense wirtschaftliche und soziale Ungleichheit im Land am eigenen Leib erfuhren, nochmals den Mythos einer klassenlosen Gesellschaft, in der dem Einzelnen dank Initiative, Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen der Weg zu Reichtum und Erfolg offenstand.Filme wie »Der kleine Cäsar« (1930) von Mervyn Le Roy, »Der öffentliche Feind« (1931) von William Wellman und »Scarface« (1932) von Howard Hawks erzählen von Männern, die den amerikanischen Traum gewalttätig verwirklichen und die Tradition des rücksichtslosen Unternehmertums fortführen. Der Bezug zur Alltagswirklichkeit trug maßgeblich zum Erfolg der Filme bei. Der Gangsterkult der Depression fand im Kino seine ästhetische Vermittlung und erlangte mythische Dimension. Dabei räumten die Filme der Schilderung von Organisation und Struktur der Bande, ihrer Hierarchie, dem Ehrenkodex, dem Konflikt zwischen Loyalität und Verrat den Vorrang ein gegenüber der kriminellen Aktion. Die Filme, die den Prohibitionsgangster als zentrale Figur präsentieren, erzählen von einem historischen Typus, der in seinem Handeln Momente archaischer Lust- und Triebbefriedigung mit einem modernen Verständnis seiner Arbeit verbindet. Das Ende der Prohibition und der Beginn des New Deal änderten das soziale Klima in den Vereinigten Staaten grundlegend und hatten auch Folgen für das Genre. Die Figur des Prohibitionsgangsters ließ sich nicht in Einklang bringen mit dem nun verlangten gesellschaftlichen Optimismus und dem Glauben in die staatliche Autorität. Cops und Agenten waren die Helden der neuen Zeit.Wie der Gangsterfilm erzählte auch das Musical großstädtische Erfolgsgeschichten, und es integrierte den Ton als realistisches Moment. Erste Musicals spielten im Showmilieu, das eine plausible Motivation für die Gesangs- und Tanznummern bot. Die Studios engagierten Tänzer und Sänger aus den Varietees und Theatern von New York, die ihre Bühnenauftritte vor der Kamera wiederholten. Diese frühen Musicals waren visuell noch sehr statisch, ihnen fehlten Tempo und Rhythmus. Hingegen inszenierten Ernst Lubitsch und Rouben Mamoulian in den frühen Dreißigerjahren bei Paramount mit mobiler Kamera und frivolem Witz schwungvolle Liebes- und Ehegeschichten. Doch standen diese Filme mehr in der europäischen Operetten- als in der amerikanischen Vaudeville-Tradition, und sie verzichteten ganz auf Tanz.Neue Anstöße erhielt das Genre 1933 durch Produktionen der Warner Bros. Auch sie spielten im Bühnenmilieu, waren aber ganz im Warner-Stil gehalten - unsentimental, modern, temporeich, voll schnoddriger Dialoge und umgangssprachlicher Ausdrücke. »Die 42. Straße«, »Goldgräber von 1933« oder »Parade im Rampenlicht« propagierten den vom neuen Präsidenten Franklin D. Roosevelt beschworenen Geist des New Deal: Der Einzelne sollte sich in den Dienst der Gemeinschaft stellen; durch kollektive Anstrengung sollte die gesellschaftliche und ökonomische Misere behoben werden. Die aufwendigen musikalischen Nummern dieser Filme inszenierte der Choreograph Busby Berkeley. Ihn interessierte der Tanz nicht als physischer Ausdruck, sondern als abstrakt-ornamentales Experiment, das nur deshalb stattfindet, um von seiner steil auf die Tänzerinnen herabblickenden Kamera erfasst zu werden. Mit Trickeffekten, mobiler Kamera und rasanten Schnittfolgen gelang Berkeley die Transformation der Bühne in eine Welt der filmischen Fantasie.Zur gleichen Zeit entstanden bei RKO Musicals, die wie ein Gegenentwurf zu dem verschwenderischen visuellen Reichtum der Warner-Produktionen wirken. Die Filme mit Fred Astaire und Ginger Rogers stehen ästhetisch und dramaturgisch ganz im Dienst der individuellen Fähigkeiten seiner Stars. Die Kamera betont die Intimität des Tanzes, den Fluss der Bewegungen. Singend gesteht Astaire Ginger Rogers seine Gefühle, und der nun folgende Tanz löst diesen Moment der Verlangsamung auf und das gesungene Liebesversprechen ein. Die Filme integrieren Gesang und Tanz als Rituale des Liebeswerbens in die Handlung.Auch wenn viele Sujets des Horrorfilms - Vampirismus, Persönlichkeitsspaltung, Retortenwesen und lebende Tote - bereits im Stummfilm vorkamen, so erlangte der Schrecken erst durch den Ton eine realistische Dimension. In rascher Folge entstanden Anfang der Dreißigerjahre in Hollywood mit »Dracula«, »Frankenstein«, »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, »The White Zombie« und »King Kong und die weiße Frau« jene Klassiker des Genres, die den motivischen und figurativen Kanon für weitere Filme vorgaben.Nach dem Erfolg der ersten amerikanischen Tonfilme begann sich auch die Ufa, die der neuen Technik zunächst misstrauisch gegenüber gestanden hatte, für den Tonfilm zu interessieren, und sie baute 1929 in Rekordzeit auf ihrem Studiogelände in Neubabelsberg das modernste Tonfilmatelier Europas. Die Kinos rüsteten systematisch auf den Tonfilm um, der sich in Deutschland um 1930 durchzusetzen begann. Die deutschen Produktionen benutzten ein Lichttonverfahren, dessen Patenthalter die 1928 ins Leben gerufene Tonbild Syndikat AG (Tobis) war. Um den Export in andere Länder zu sichern, wurden viele frühe deutsche Tonfilme in verschiedenen Sprachversionen hergestellt. In derselben Dekoration wurde nacheinander Szene für Szene zunächst mit einheimischen und dann mit fremdsprachigen Darstellern gedreht, sodass zwischen den Versionen durch die jeweiligen Rolleninterpretationen Unterschiede entstanden.Der Tonfilm, der von den Schauspielern ein naturalistischeres Spiel verlangte, brachte eine Reihe neuer Stars hervor: Willy Fritsch und Lilian Harvey, Hans Albers und Marlene Dietrich. In dem Prestigefilm »Der blaue Engel« stürzte die zuvor fast unbekannte Dietrich als »fesche Lola« nicht nur den von Emil Jannings gespielten Gymnasiallehrer Rath in erotische Verwirrung. Der Film über das sadomasochistische Spiel von Unterwerfung und Abhängigkeit, für dessen Inszenierung die Ufa den in Hollywood arbeitenden Regisseur Josef von Sternberg engagiert hatte, verhalf dem frühen deutschen Tonfilm zu internationalem Ansehen.Das neue Genre Tonfilmoperette nutzte die ästhetischen Möglichkeiten des Tonfilms, um Musik, Gesang und choreographierte Bewegung in die Handlung zu integrieren und zu einer Einheit zu verschmelzen. Das alltägliche Leben in der Weimarer Republik Anfang der Dreißigerjahre war geprägt von wirtschaftlicher Krise, hoher Arbeitslosigkeit und politischer Instabilität. Die Tonfilmoperette nahm sich der tristen Realität auf freche, übermütige Weise an und verankerte wie in »Die Drei von der Tankstelle« und »Ich bei Tag und du bei Nacht« die Handlung in den Alltagsnöten der Zeit. Fließend geht in diesen Filmen der Dialog in Gesang und tänzerische Schrittfolgen über, unauflösbar wird die Handlung mit der Musik verflochten. »Der Kongress tanzt«, der eine zeitlich ferne, sinnlich berückende Gegenwelt zur Weimarer Realität als Walzermärchen auferstehen lässt, war die aufwendigste aller Tonfilmoperetten. Der Film feierte das leichtlebige Vergnügen und der Tonfilm Triumphe: Sprache geht über in Musik, Musik kommentiert das Handeln und bestimmt den Rhythmus der Dramaturgie. Mit der Tonfilmoperette kehrte die visuelle Eleganz der Stummfilmzeit ins deutsche Kino zurück.Die Machtübernahme der Nationalsozialisten beendete die kurze Blütezeit der Tonfilmoperette. Der Exodus der jüdischen Filmschaffenden beraubte das Genre seiner wichtigsten kreativen Kräfte: Der Produzent Erich Pommer, die Komponisten Werner Richard Heymann und Friedrich Hollaender, die Regisseure Ludwig Berger, Eric Charell und Wilhelm Thiele - sie alle emigrierten 1933. Vier Jahre später wurden fast alle Tonfilmoperetten von der nationalsozialistischen Filmprüfstelle verboten. Die frivole Leichtigkeit der Filme war den Machthabern ein Dorn im Auge. Der Kongress hatte endgültig ausgetanzt.Dr. Daniela Sannwald; Robert MüllerFilmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, herausgegeben von Thomas Koebner. 4 Bände. Sonderausgabe Stuttgart 21998.Geschichte des internationalen Films, herausgegeben von Geoffrey Nowell-Smith. Aus dem Englischen. Stuttgart u. a. 1998.Kreimeier, Klaus: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. Taschenbuchausgabe München 1995.Lexikon des internationalen Films. Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen und auf Video, begründet von Klaus Brüne. Bearbeitet von Horst Peter Koll. 10 Bände. Neuausgabe Reinbek 1995.Reisz, Karel und Millar, Gavin: Geschichte und Technik der Filmmontage. Aus dem Englischen. München1988.Sachlexikon Film, herausgegeben von Rainer Rother. Reinbek 1997.
Universal-Lexikon. 2012.